Männertheologischer
Predigtpreis 2016
„Und ob ich schon wanderte
” (Ps 23,4) –
sich von seiner Sehnsucht
finden lassen
Wenn plötzlich alles anders wird…
Einleitung
Der vorliegende Beitrag zum Männer-Predigtpreis der Männerarbeit der EKD ist eine
Predigt, die ich am 14. Februar 2016 im Gottesdienst in Gleschendorf (Ostholstein) gehalten
habe. Dieser Gottesdienst war der Teil meiner diesjährigen Predigtreihe „Mann, Paulus!“, die
im ersten Halbjahr 2016 in verschiedenen Kirchen unseres Kirchenkreises zur Person
Paulus stattgefunden hat. Deren Grundidee war, unterschiedliche Aspekte der männlichen
Identität des Apostels zu beleuchten..
Die vorgelegte Predigt hat somit nicht Psalm 23,4 zum Predigttext, nimmt aber Bezug auf
das Jahresthema „sich von seiner Sehnsucht finden lassen“. Der biblische Referenztext, der
in den beiden Lesungen des Gottesdienstes zu Wort kam, war Apostelgeschichte 9, 1-20
(i.A.) in eigener Übersetzung.
1. Lesung: Apostelgeschichte 9, 1-9
Saulus wütete noch immer mit Drohen und Morden gegen die Jüngerinnen und Jünger
des Herrn.
Er ging zum Obersten Priester und bat um eine schriftliche Vollmacht für die Synagogen
in Damaskus.
Dort wollte er die Anhänger des neuen Weges aufspüren.
Er wollte sie, Männer und Frauen, festnehmen und nach Jerusalem bringen.
Unterwegs aber, als er schon kurz vor Damaskus war, geschah es:
Ein Licht vom Himmel umstrahlte ihn plötzlich!
Er stürzte zu Boden und hörte eine Stimme, die zu ihm sagte:
„Saul, Saul, warum verfolgst du mich?“
Er fragte: „Wer bist du, Herr?“
Die Stimme antwortete:
„Ich bin Jesus, der, den du verfolgst.
Doch jetzt steh auf und geh in die Stadt; dort wirst du erfahren, was du tun sollst.“
Die Männer, die Saulus begleiteten, standen sprachlos da; sie hörten zwar die Stimme,
doch sie sahen niemand.
Saulus erhob sich vom Boden.
Als er aber die Augen öffnete, sah er nichts.
Seine Begleiter nahmen ihn an der Hand und führten ihn nach Damaskus.
Drei Tage lang war Saulus blind und er aß nicht und trank nichts.
2. Lesung: Apostelgeschichte 9, 10-20
In Damaskus lebte ein Jünger namens Hananias.
Dem erschien der Herr und sprach zu ihm: „Hananias!“
Er antwortete: „Hier bin ich, Herr.“
Da sagte der Herr zu ihm:
„Steh auf! Geh in die Gerade Straße und frag im Haus von Judas nach einem Mann
namens Saulus aus Tarsus.
Er ist dort und betet.
In einer Erscheinung hat er einen Mann namens Hananias gesehen, wie er zu ihm kam
und ihm die Hände auflegte, damit er wieder sehen kann.“
Hananias antwortete:
„Herr, ich habe schon viel von diesem Mann gehört.
Er hat deinen Heiligen in Jerusalem viel Böses angetan.
Und jetzt ist er mit einer Vollmacht von den führenden Priestern hierhergekommen.
Er will alle verhaften, die deinen Namen anrufen.“
Der Herr aber sprach zu ihm:
„Geh nur! Denn gerade diesen Mann habe ich mir als mein Werkzeug auserwählt:
Er soll meinen Namen bekannt machen vor den Heiden und ihren Königen und vor dem
Volk Israel.
Und ich werde ihm auch zeigen, wie viel er leiden muss, weil er sich zu mir bekennt.“
Da machte sich Hananias auf den Weg und ging in das Haus.
Er legte Saulus die Hände auf und sagte:
„Saul, Bruder, der Herr hat mich gesandt – Jesus, der dir auf dem Weg hierher
erschienen ist.
Du sollst wieder sehen können und mit dem Heiligen Geist erfüllt werden.“
Sofort fiel Saulus wie Schuppen von den Augen und er konnte wieder sehen.
Er stand auf und ließ sich taufen.
Und nachdem er etwas gegessen hatte, kam er wieder zu Kräften.
Danach verbrachte Saulus einige Zeit bei den Jüngern in Damaskus.
Er verlor keine Zeit und verkündete in den Synagogen: „Jesus ist der Sohn Gottes.“
Alle, die das hörten, waren sehr erstaunt und sagten:
„Das ist doch der Mann, der in Jerusalem die Leute verfolgt hat, die sich zu Jesus
bekennen!
Ist er nicht sogar auch hierhergekommen, um sie festzunehmen und vor die führenden
Priester zu bringen?“
Aber Saulus ließ sich nicht beirren und stürzte die Juden in Damaskus in völlige
Verwirrung, weil er zu ihnen erklärte, dass Jesus der Messias ist.
Predigt
Die Gnade unseres Herrn Jesus Christus und die Liebe Gottes
und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei mit uns allen.
Amen.
I.
Paul war gerade unterwegs zu einem wichtigen Termin.
Ein wenig in Eile und schon ganz fokussiert auf das, was er da gleich zu erledigen hatte:
Ein nicht ganz unbedeutender Auftrag.
Er, mit seiner Erfahrung, seinem Charisma und seinem unbedingten Willen war von der
Firmenleitung damit betraut worden, weil er einfach der Mann für solche Fälle war.
Aber dann ging‘s einfach nicht mehr weiter.
Die Rückenschmerzen, die er schon seit ein paar Tagen hatte, wurden immer heftiger.
Stechende Schmerzen im Rücken, dazu Taubheit im rechten Arm und seiner Hand.
Die Bandscheibe, wie sich später rausstellte.
Danach war alles anders.
Zwar nicht gleich: Zuerst brachte er noch diesen Auftrag mit einer gehörigen Portion
Schmerzmittel über die Bühne, aber am Abend, da hatte es ihn dann vollends auf die
Bretter gehauen. Nichts geht mehr.
Die nächsten Tage war da immer wieder der Gedanke:
Ich kann doch jetzt nicht ausfallen. Ich muss schnell wieder auf die Beine kommen.
Mein Terminkalender ist doch voll.
Ich bin doch unverzichtbar.
Aber als sich dann zeigte, dass das nicht einfach so ging, dass er nicht so schnell
wiederhergestellt sein würde, da wurde dieses Ereignis für ihn zu einer richtigen Zäsur.
Mit jedem Tag, den er daniederlag, wurde die Stimme in seinem Kopf lauter:
„Was machst Du da eigentlich? Soll das jetzt immer so weitergehen?
Welches Ziel verfolgst du damit? Willst du wirklich so leben?“
Am Ende dieser schmerzhaften Tage stand für Paul fest:
„Ich muss etwas verändern.
Nein, mehr noch: Ich muss nicht etwas verändern, ich muss mich verändern!“
II.
Plötzlich wird alles anders – für Paul…
…und für Saulus, diesen Sektenbeauftragten des Jerusalemer Tempels, der mit allen
Vollmachten ausgestattet ist und vor keinem Mittel zurückschreckt.
Auf dem Weg zu seinem wichtigen Auftrag in Damaskus reißt es auch ihn auf die Bretter:
Mit einem Mal kann er nicht mehr klar sehen.
Er, der Überzeugungstäter, für den immer klar war, worum es geht und was als nächstes
zu tun ist, er hat auf ganzer Linie den Durchblick verloren.
Er kann sich zwar im ersten Moment gerade noch so berappeln und wieder auf die
Beine kommen aber dann muss er sich an die Hand nehmen und führen lassen, weil er
selbst nicht mehr sieht, wie der Weg weiter geht.
Drei Tage verbringt er so.
Drei Tage in diesem Zustand der Blindheit, der Orientierungslosigkeit, der Unklarheit.
Drei Tage, die wahrscheinlich die Hölle waren.
Denn in diesen drei Tagen bricht zusammen, was sein Leben bisher ausgemacht hat.
Das, wofür er stand, das, worauf er stolz war, das, was er mit voller Kraft verfolgte, ist
plötzlich auf ganzer Linie fraglich geworden.
„Was machst Du da?“, diese Frage begleitet ihn durch die drei Tage, „Was wird das? Was
verfolgst du damit?“
III.
Diese Frage nach ihrem Leben holt Paul und Saulus ein.
Lange sind sie vor dieser Frage davongelaufen, immer auf dem Weg zum nächsten
Auftrag, immer ganz von dem eingenommen, was als nächstes zu erledigen war.
Da blieb keine Zeit und kein Raum für die Frage: „Will ich das eigentlich so?“
Ich glaube, das ist – besonders für Männer – nicht untypisch.
Und ich finde das auch nachvollziehbar.
Denn diese Frage, wenn ich sie zulasse, kann mein Leben ganz schön
durcheinanderbringen.
Es besteht die Gefahr, dass ich mich dann erst mal nicht mehr in meinem Leben
zurechtfinde so wie Saulus, der plötzlich keinen Durchblick mehr hat.
Und so halten – gerade wir Männer – lieber noch eine ganze Zeit mit voller Kraft
dagegen, auch wenn wir schon eine Ahnung davon haben, dass uns unsere Art zu leben
eigentlich nicht mehr behagt, und das, worauf wir unser Leben gründen, schon eine
Weile brüchig geworden ist.
„Ewig vertagt, diese Stimme, die sagt, wenn du es tun willst, dann tu‘s!“
Diese Zeile aus einem Liedtext von Heinz Rudolf Kunze, ist mir dazu in den Kopf
gekommen.
„Ewig vertagt, diese Stimme, die sagt, wenn du es tun willst, dann tu‘s!“
Ich finde, diese Zeile bringt das Ganze treffend auf den Punkt.
Denn in ihr wird klar:
Es ist nicht so, dass es diese Stimme nicht immer mal wieder geben würde, diese
Stimme, die einen danach fragt, ob wir uns in unserem Leben eigentlich wohlfühlen.
Doch in der Tagesordnung unseres Lebens wird diese Stimme oft eher an den Schluss
gesetzt, sogar noch hinter die Steuererklärung und die nächste TÜV-Untersuchung und
wird dann schließlich aus Zeitmangel nicht mehr behandelt.
„Sich von seiner Sehnsucht finden lassen.“
So heißt das Jahresthema der evangelischen Männerarbeit in Deutschland.
Und in diesem Motto kommt die gleiche Einsicht zur Sprache.
Die Einsicht, dass wir der Stimme der Sehnsucht in uns oft wenig Gehör schenken.
„Sich von seiner Sehnsucht finden lassen.“
Dass das im Passiv ausgedrückt ist, spricht Bände:
Denn die Frage nach der Sehnsucht für das eigenen Leben stellen wir in der Regel eben
nicht aktiv, sondern sie wird uns eher von außen gestellt.
Nicht selten passiert das durch ein solches Ereignis, mit dem einen diese Frage nach der
eigenen Sehnsucht einholt:
Der Bandscheibenvorfall, der Herzinfarkt, der Burnout, die Ehekrise, der Hörsturz.
Wenn es einen äußerlich zu Boden reißt, dann können wir dieser Stimme der Sehnsucht,
die uns fragt, nicht mehr weiter ausweichen.
IV.
Ich glaube, bei Saulus spricht diese Stimme von seiner Sehnsucht, sich nicht immer
selbst rechtfertigen zu müssen durch seine einwandfreie Lebensführung, durch sein
strenges Befolgen der Gesetze, durch alles, was er tut.
Es ist die Sehnsucht, endlich niemandem mehr etwas beweisen zu müssen, den anderen
nicht, sich selbst nicht und Gott nicht, sondern einfach leben zu dürfen, nicht, weil er so
verdienstvoll, so würdig und erfolgreich ist, sondern leben zu dürfen, weil er einfach am
Leben ist als Gottes geliebtes Geschöpf, einfach so, ohne sich dafür abzurackern zu
müssen und am Ende immer noch nicht sicher zu sein, ob es genug ist, was er getan hat.
Diese Sehnsucht holt ihn ein, als er auf dem Weg nach Damaskus ist, um es wieder
einmal allen zu zeigen.
Gott holt ihn ein mit dieser Sehnsucht.
Er stellt ihm die Frage:
„Warum verfolgst du ausgerechnet den, der von der Liebe Gottes gesprochen hat?
Warum verfolgst du den, der das menschliche Gesicht dieser Liebe ist?
Warum verfolgst du den, der dadurch auch deiner Sehnsucht Nahrung gibt?“
Warum folgst du nicht stattdessen lieber deiner Sehnsucht und lässt Dich ein auf dieses
Vertrauen, dass es da einen gibt, dem du dein Leben verdankst und der es dir schenkt,
einfach so, ohne Gegenleistung?
Wenn ich weiter überlege, dann habe ich den Verdacht, dass es bei Paul vielleicht sogar
die gleiche Sehnsucht ist, die ihn nicht in Ruhe lässt bei dieser ungeplanten Zäsur, die
sein Leben durch seinen Bandscheibenvorfall erfährt.
Bei ihm haben wir es natürlich nicht mit dieser religiösen Ausrichtung zu tun wie bei
Saulus, aber der dahinterliegende innere Zwang ist wohl der gleiche:
Der Zwang, es allen zu zeigen und zu beweisen, dass man zu Recht auf der Welt ist.
„Ich mache, also bin ich.“
Und als er das auf einmal nicht mehr kann, sich selbst rechtfertigen durch seine Power,
seine Erfolge, sein Ansehen, da holt auch ihn diese Frage ein, und lässt ihn nicht mehr
los.
Ja, beide, Paul und Saulus, zwingt wohl letztlich diese Frage in die Knie:
Die Frage, nach der Wahrheit ihres Lebens, die Frage, ob das, worauf sie ihr Leben
gründen, eigentlich der Sehnsucht, die in ihm wohnt, entspricht.
V.
Und so bricht sich in diesen schmerzvollen Tagen in ihnen die Erkenntnis Bahn, dass es
so nicht weiter geht.
Das ganze bisherige Leben wird auf den Kopf gestellt, eine Erfahrung, die der Theologe
Karl Barth einmal so in Wort gefasst hat:
„Tiefe ist die Höhe, auf der ich stand, Verlorenheit [ist] die Sicherheit, in der ich lebte,
Finsternis [ist] die Klarheit, die ich hatte.“
Am Ende der drei Tage – so erzählt es unser biblischer Text – da fällt es Saulus dann
mithilfe jenes Mannes, der ihm die Augen öffnet, wie Schuppen von den Augen:
„Ich muss etwas verändern. Nein, mehr noch: Ich muss nicht etwas verändern, ich muss
mich verändern!“
Denn das wird in der Geschichte mehr als deutlich:
Es ist hier nicht mit ein paar Korrekturen getan.
Es geht hier nicht darum, ein wenig an der Feinjustierung des eigenen Lebens zu
drehen, sondern es geht ums Ganze.
Saulus lässt sich selbst los.
Er lässt los, was er war, worüber er sich definiert hat, was sein Stolz und seine Ziele
gewesen sind.
Er lässt also nicht weniger als seine Identität hinter sich, das, was ihn geprägt hat, woran
er sein Leben ausgerichtet hat, was ihn zu dem gemacht hat, der er war.
So gibt Saulus seine Vergangenheit auf, um seine Zukunft zu gewinnen.
Manchmal geht es nicht ohne einen solchen Bruch.
Verstehen Sie mich nicht falsch:
Nicht jede Krise im Leben ist so radikal wie diese.
Und so hat auch nicht jede Krise zwangsläufig einen solchen radikalen Schnitt zur Folge,
eine derartige Neuausrichtung des Lebens, wie wir sie hier bei Paulus vor Augen geführt
bekommen.
Doch es gibt diese Situationen, die eine solche Verwandlung nötig machen.
„Ich will so bleiben, wie ich bin. – Du darfst.“
So lautete vor einigen Jahren mal ein sehr eingängiger Werbeslogan für Diät-
Lebensmittel.
Dass das damals so eingängig gewesen ist, hat – glaube ich – damit zu tun, dass in
diesen Worten ein tiefer Wunsch von uns enthalten ist, der Wunsch, dass wir nichts
verändern müssen sondern am liebsten die bleiben wollen, die wir sind, auch dann
noch, wenn wir nicht mehr weiter wissen.
Die Rückseite dieses Wunsches ist unsere Angst vor Veränderung:
Denn das ist mühsam, anstrengend, verunsichernd, wenn ich plötzlich ein anderer
werden muss.
Aber manchmal geht es nicht anders.
Manche Krisen lassen sich eben nicht lösen, wenn man sich nicht von sich selbst löst.
Manche Orientierungslosigkeit verliert sich erst, wenn man mit ganz anderen Augen zu
sehen gelernt hat ganz
Aus manchen Situationen, in denen es einen auf die Bretter gehauen hat, kann man erst
aufstehen, wenn man ein anderer geworden ist.
Die Bibel voller solcher Geschichten, in denen Menschen dieses Wagnis eingehen, in
denen Menschen von Gott herausgefordert werden, und sich dadurch zu sich selbst
befreien lassen.
Nicht um anderen zu gefallen, ist diese Wandlung nötig und letztlich auch nicht um Gott
zu genügen, sondern um bei sich selbst anzukommen.
Und so sehr solche Veränderungen uns auch Angst einjagen mögen, so sind sie doch –
wie wir in unserer Geschichte sehen – mit einer Verheißung verbunden:
Nach den drei schmerzhaften Tagen, in denen Saulus durch die Hölle gegangen ist, sieht
er am Ende wieder klar:
Er hat wieder ein Ziel vor Augen, für das es sich zu leben lohnt.
Er hat wieder einen Plan für sein Leben und weiß, wofür er sich mit seiner ganzen
Energie einsetzen will.
Er verfolgt wieder einen klaren Weg.
Doch anders als zuvor ist das nicht mehr ein Weg, auf dem er sich mit jedem Schritt von
sich selbst entfernt, sondern es ist nun ein Weg, der zum Leben führt.
Amen.
Und der Friede Gottes der höher ist als alle Vernunft,
bewahre unsere Herzen und Sinne in Jesus Christus.
Amen.