Männertheologischer
Predigtpreis 2017
„Gnade! –
Womit habe ich das verdient?
[1. Kor 10,15]
„Gnade – Womit habe ich das verdient?“
(von Frank Karpa)
Einleitung
Dieser Gottesdienst war der Teil meiner diesjährigen Predigtreihe „Mann, Luther!“, die im ersten Halbjahr 2017 in
verschiedenen Kirchen unseres Kirchenkreises stattgefunden hat. Die Predigt nimmt Bezug auf Eph. 2,4-10 und
Luthers Vorrede zu seiner Übersetzung des Römerbriefs.
1. Lesung: Brief an die Epheser (2, 4-10)
Die erste Lesung steht im Brief an die Gemeinde in Ephesus, im 2. Kapitel.
Da steht geschrieben:
Gott ist reich an Barmherzigkeit.
Er hat uns seine ganze Liebe geschenkt und uns zusammen mit Christus lebendig gemacht.
Das tat er, obwohl wir aufgrund unserer Verfehlungen doch tot waren.
– Ihr seid also aus Gnade gerettet! –
Gott hat uns mit Christus auferweckt und zusammen mit ihm einen Platz im Himmel gegeben.
Denn wir gehören zu Jesus Christus!
So wollte Gott für alle Zukunft zeigen, wie unendlich reich seine Gnade ist:
die Güte, die er uns erweist, die wir zu Jesus Christus gehören.
Denn aus Gnade seid ihr gerettet – durch den Glauben.
Und das verdankt ihr nicht eurer eigenen Leistung, sondern es ist Gottes Geschenk.
Er gibt es unabhängig von irgendwelchen Taten, damit niemand sich damit brüsten kann.
Denn wir sind Gottes Werk, neu geschaffen mit Jesus Christus, dazu bestimmt, zu wirken, was
Gott wirkt, weil er uns dazu befähigt hat.
2. Lesung: Aus Luthers Vorrede zu seiner Übersetzung des Römerbriefs
Der Glaube ist ein göttliches Werk in uns, das uns wandelt und […] aus uns ganz andere
Menschen macht in Herz, Gemüt, Sinn und allen Kräften.
Der Glaube ist eine lebendige, verwegene Zuversicht auf Gottes Gnade […].
Und solche Zuversicht und Erkenntnis göttlicher Gnade macht fröhlich, trotzig und voller Lust
gegenüber Gott und allen Kreaturen:
Das macht der Heilige Geist im Glauben.
Daher wird der Mensch ohne Zwang willig und voller Lust, jedermann Gutes zu tun, jedermann
zu dienen, allerlei zu leiden, Gott zu Liebe und ihm zum Lob, der einem solche Gnade gezeigt
hat.
Predigt
Die Gnade unseres Herrn Jesus Christus und die Liebe Gottes
und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei mit uns allen.
Amen.
I.
„Wer ein guter Fußballer sein will, der muss das ‚simul‘ klar haben.“
Es wird ein Championsleague-Halbfinale oder WM-Qualifikationsspiel gewesen sein, als ich
diesen Satz hörte. Tatsächlich weiß ich nicht mehr, wer da gegen wen spielte, nicht mal ob es ein
Länderspiel war, oder es um einen der europäischen Vereinswettbewerbe ging. Aber dieser Satz
ist mir doch nachhaltig in Erinnerung geblieben.
Das Seminar bei meinem Theologieprofessor hatte ausnahmsweise mal bei ihm zu Hause
stattgefunden. Als die Arbeit dann getan war, setzten wir uns vor den Fernseher, um gemeinsam
Fußball zu gucken. Und dabei fiel eben jener Satz, den ich auch so viele Jahre später noch im
Kopf habe: „Wer ein guter Fußballer sein will, der muss das ‚simul‘ klar haben.“
Ich glaube, ich habe mir das deshalb gemerkt, weil mein theologischer Lehrer da zwei Dinge
zusammenbrachte, die scheinbar so gar nichts miteinander zu tun haben: Das theologische
Vokabular der protestantischen Theologie einerseits und die Gesetzmäßigkeiten im Profisport
„Fußball“ auf der anderen Seite.
Am Anfang habe ich mir den Satz wohl vor allem wegen dieser kuriosen Verknüpfung zweier
Lebenswelten gemerkt, die vermeintlich so weit von einander entfernt sind, wie die Erde vom
Mond.
Aber im Laufe der Jahre ist mir diese Formulierung immer wieder in den Sinn gekommen, und
hat sich als zutreffend erwiesen. Und das hat mich daran erinnert, dass eine gute Theologie alle
Lebensbereiche – auch scheinbar ganz weit entfernte – durchdringt, wie geschehen in dem Satz:
„Wer ein guter Fußballer sein will, der muss das ‚simul‘ klar haben.“
II.
Was hat es nun mit diesem „simul“ auf sich? Wer Latein in der Schule hatte, mag sich
möglicherweise noch daran erinnern, dass dieses Wort mit „zugleich“ oder „gleichzeitig“ zu
übersetzen ist. Aber damit ist natürlich gar nichts erklärt.
Für eine Erklärung muss ich etwas weiter ausholen und einen Szenenwechsel machen – weg
vom Fußballplatz hin zum Abort des Wittenberger Augustinerklosters. Denn an dieser Stelle
hatte Martin Luther sein sogenanntes Turmerlebnis. Noch Jahre später erinnert sich der
Reformator, dass ihn hier die entscheidende Erkenntnis seines Lebens überkam: Die
Entdeckung der Gnade.
Natürlich hatte er schon zuvor als Student und später Doktor der Theologie allerlei über die
Gnade gelesen, er kannte die biblischen Texte und die kirchliche Lehre dazu, aber wie das mit
der Gnade wirklich zu verstehen ist, dass ging ihm eben erst hier – auf dem Klo – auf.
„Wie bekomme ich einen gnädigen Gott?“
Lange Zeit hatte Luther sich zuvor mit dieser Frage herumgeschlagen, wie er selbst – und
ebenso auch alle anderen Menschen – vor Gott bestehen können, wo doch klar ist, dass
niemand ohne Fehler ist, dass es keinen gibt, der für sich in Anspruch nehmen kann, dass sein
Leben tadellos ist, sondern zum Leben eben Versagen und Schuld dazugehören. Oder um es im
theologischen Vokabular auszudrücken: wo doch klar ist, dass wir alle Sünder sind.
Diese Frage ließ ihm keine Ruhe und die Antwort, die die Kirche seiner Zeit auf diese Frage hatte,
beruhigte ihn auch nicht: Diese kirchenoffizielle Antwort lautete: Wenn wir Menschen nur
genügend Bußleistungen erbringen,dann können wir von uns aus mit Gott ins Reine kommen.
Bekanntlich betrieb die Kirche mit diesen Bußleistungen sogar einen regen Handel: Man konnte
einen Ablassbrief erwerben und sich oder seine Angehörigen so freikaufen von der Last der
Sünde.
„Wie bekomme ich einen gnädigen Gott?“
Wie kann ich vor Gott bestehen?
Die einfache Antwort der Kirche lautete also: Ich muss entweder viel leisten und weiß trotzdem
nie, ob es tatsächlich genug ist, was ich tue, um mit Gott ins Reine zu kommen. Oder ich muss
viel zahlen und kann mich so von der Sündenlast befreien.
Aber dann – im sogenannten „Turm“ des Klosters – ging Luther offenbar die biblischen Texte
noch einmal in Gedanken durch und begriff auf einmal, dass Gnade wirklich Gnade heißt.
Dass wir vor Gott bestehen können, das schenkt er uns, ohne dass wir etwas dazu beitragen
müssen oder überhaupt etwas dazu beitragen könnten. Mit der Gnade Gottes sind eben nicht
irgendwelche verkappten Forderungen verbunden, sondern sie ist gratis. Es geht nicht um das,
was wir tun oder zahlen können, sondern nur darum, dieses Geschenk anzunehmen, indem wir
darauf vertrauen. So wie wir es in dem biblischen Lesungstext gehört haben:
„Aus Gnade seid ihr gerettet – durch den Glauben. Und das verdankt ihr nicht eurer eigenen
Leistung, sondern es ist Gottes Geschenk.“
III.
Sie ahnen oder wissen es schon längst: Dieses Schlüsselerlebnis im Turm war die Grundlage für
Luthers 95 Thesen und damit letztlich der Anstoß für den Streit um den Ablass. Mit dieser
bahnbrechenden Entdeckung der Gnade im Rücken kämpfte Luther gegen alle
Geschäftemacherei der Kirchenfunktionäre seiner Zeit.
Aus heutiger Sicht kann einem dieser ganze Streit schon eigenartig fremd vorkommen. Denn die
wenigsten Menschen kommen heute noch auf die Idee, sich vor einem Fegefeuer zu fürchten.
Die wenigsten Menschen glauben, dass es im Leben darum geht, sich vor Gott Verdienste zu
erarbeiten. Und es mutet aus heutiger Sicht geradezu absurd an, dass Menschen wirklich
ernsthaft gedacht haben, man könne sich erkaufen, dass man vor Gott gut dasteht.
Auch die Gnade hat heute keinen guten Ruf. Denn das Reden von der Gnade steht in dem
Verdacht, Menschen klein zu machen. Wenn wir von der Sünde und der Gnade zu sprechen
anfangen, dann antwortet unser aufgeklärtes, zeitgenössisches Bewusstsein: „Geh mir damit
weg! Ich will nicht von dir zum Sünder erklärt werden, nur damit du mir anschließend deine
Gnade andrehen kannst.“
Selbst wenn damit kein Handel im eigentlichen Sinne betrieben wird, wie seinerzeit mit den
Ablassbriefen, so misstrauen wir Menschen unserer Zeit doch der Rede von Sünde und Gnade.
Der Tenor dieses Argwohns lautet: „Ich habe keine Lust, mich von dir schlechtreden zu lassen,
und dann anschließend zu Kreuze kriechen zu müssen.“
Ja, man kann sagen: Den Menschen unserer Zeit ist eigentlich diese ganze Fragestellung, die
Luther und seine Zeitgenossen so sehr umtrieb, fremd.
„Wie bekomme ich einen gnädigen Gott?“ Diese Frage raubt im Jahr 2017 nicht annähernd so
vielen Menschen den Schlaf, wie sie es im Jahr 1517 getan hat.
III.
Ist damit der Kernimpuls der Reformation also aus der Zeit gefallen? Wenn die Grundfrage, die
Luther und die übrigen Menschen damals so sehr bewegt hat, uns gar nicht mehr beschäftigt,
heißt das das dann, dass auch die Antwort auf diese Frage uns Heutigen nichts mehr zu sagen
hat?
Ich glaube nicht. Ich glaube, es gilt vielmehr, die Frage nach dem gnädigen Gott in unsere Zeit zu
übersetzen, also zu überlegen, was die Entsprechung dieser Frage in der Gegenwart ist.
Ich glaube, die Grundfrage, die Menschen heute so beschäftigt und bewegt, wie seinerzeit die
Frage nach dem gnädigen Gott lautet: Wie gelingt mein Leben?
Und interessanterweise sind die Antworten, die uns heute auf diese Frage gegeben werden, den
Antworten von damals sehr ähnlich. Da ist zunächst die Antwort: Dass dein Leben gelingt, dafür
musst du selbst sorgen.
Die ganze moderne Ratgeberliteratur ist voller solcher Hinweise, was zu tun ist, damit man
etwas aus seinem Leben macht. Ähnlich wie man zu Luthers Zeit den Menschen eingeredet hat,
sie müssten nur hart genug für ihre Gnade arbeiten, so vermitteln uns viele dieser Ratgeber die
Illusion, dass es einfach Handlungsrezepte zu befolgen gilt, um sich ein gelingendes Leben zu
schaffen. „Der Weg zum Glück in 7 Schritten!“ oder so ähnlich heißen die verheißungsvollen Titel.
In die gleiche Richtung gehen die Selbstoptimierungs-Apps, die es inzwischen gibt. Das sind
Handyprogramme, die die Schritte zählen, die man am Tag geht, die die eigene Arbeitseffizienz
steuern, die die Ernährung kontrollieren, ja, die sogar den Schlaf überwachen und messen, ob
man sich in der Nacht effektiv genug erholt hat.
In einem Interview erklärt ein solcher Selbstoptimierer sein Motiv dafür, warum er seinen
ganzen Alltag einem solchen ständigen Optimierungscheck unterzieht. Er sagt: „Wenn ich sehe,
dass ich meine Ziele erreiche, macht mich das glücklich. Früher hatte ich immer ein gewisses
Schuldgefühl, weil ich dachte, ich arbeite nicht genug oder ich verschwende meine Zeit. Und
jetzt, da es messbar ist, kann ich mich endlich kontrollieren.“ („Die ZEIT“)
Wir sind damit auf einer Spur, die uns zur Grundprogrammierung führt, die vor allem in vielen
Männern angelegt ist. Der Code dieser Programmierung lautet: Mach was aus deinem Leben,
indem du etwas schaffst, indem du dir etwas erarbeitest, indem du durch deine Leistung
bestätigst, dass du zu recht an der Stelle bist, an der du stehst.
Aber wann ist es denn genug? Wann habe ich denn ausreichend gearbeitet? Wann bin ich denn
weit genug in meiner Karriere vorangekommen?
Ähnlich wie Luther getrieben wurde von der Angst, nicht ausreichend viel getan zu haben, um
vor Gott zu bestehen, gibt es heute viele – v.a. – Männer, die von dieser Programmierung
getrieben werden, die sich vor allem über ihre Leistung definieren, über das, was sie sie schaffen
und erreicht haben.
Und sogar, was uns mit Blick auf die Reformationszeit besonders absurd vorkam, nämlich dass
Menschen versuchten, sich die Gnade Gottes zu erkaufen, hat seine moderne Entsprechung in
dem Irrglauben, dass es einen Zusammenhang gibt zwischen Lebensglück und Konsum.
So wie also 1517 Luther laut wurde gegen den Ablasshandel und das gnadenlose Hamsterrad
der Bußübungen,so müssen wir heute deutlich werden gegenüber diesen gnadenlosen
Programmierungen und dem Irrglauben unserer Zeit.
Noch einmal: Im Epheserbrief heißt es: „Aus Gnade seid ihr gerettet – durch den Glauben. Und
das verdankt ihr nicht eurer eigenen Leistung, sondern es ist Gottes Geschenk.“
In unsere Zeit übersetzt heißt das: Das, worum es im Leben geht, kann man sich nicht erarbeiten
und schon gar nicht erkaufen. Das, was mein Leben erfüllt, ist am Ende des Tages nicht meine
Leistung oder mein Portemonnaie, sondern das, was mir geschenkt wird, was mir an Glück und
Liebe widerfährt, ohne dass ich das selbst machen könnte.
IV.
Kommen wir also zurück zu dem Satz, mit dem ich diese Predigt begonnen habe: „Wer ein guter
Fußballer sein will, der muss das ‚simul‘ klar haben.“
Dieses ‚simul‘ stammt aus dem reformatorischen Lehrsatz, wonach wir Menschen immer „simul
peccator et iustus“ sind. „Simul peccator et iustus“ das bedeutet auf deutsch: „Zugleich Sünder
und Gerechte“.
Wir sind also in jedem Augenblick unseres Lebens immer beides: Menschen, die Fehler machen,
die Dinge vergeigen, die anderen etwas schuldig bleiben, die am Leben vorbeileben, und
zugleich Menschen, die etwas leisten, die sich daran freuen können, was ihnen gelingt, und die
auch noch in dem Moment angenommen sind, wo sie versagt haben.
Wenn ein Fußballer das ‚simul‘ klar hat, dann wird er – wenn er ein brillantes Tor geschossen hat
– wissen, dass vielleicht etwas Glück dazugehörte, dass er zuvor ein gutes Zuspiel bekommen
hat und dass das, was er kann, eine Mischung ist aus eigener harter Arbeit und geschenktem
Talent. Und er wird beim verschossenen Elfmeter wissen, dass er mehr ist als dieser eine
Moment des Misslingens.
Er wird also weder das eine noch das andere absolut setzen, weder die eigene Leistung noch das
eigene Misslingen. So wird er nach einem guten Spiel nicht nur sich selbst abfeiern und nach
einem schlechten Spiel nicht mit der Brechstange versuchen, es jetzt besser zu machen. Denn so
viel ist doch klar: das unbedingte Wollen führt zur Verkrampfung, auf dem Fußballplatz genauso
wie im übrigen Leben.
Wenn er das ‚simul‘ klar hat, dann nimmt er das geschenkte Talent an und arbeitet damit. Doch
so anspruchsvoll und leistungsorientiert sein Trainingsprogramm dabei auch sein mag – Er wird
nur dann ein guter Fußballer sein, wenn er etwas von der Haltung der Gelassenheit hat, von der
wir in der zweiten Lesung gehört haben, die Gelassenheit dessen, der um die Gnade weiß oder
zumindest ahnt, dass es sie gibt. Diese Haltung, die Luther als eine „verwegene Zuversicht“
beschreibt, und die uns – wie es da heißt – manchmal fröhlich, manchmal trotzig und manchmal
voller Lust sein lässt.
Und damit wird hoffentlich deutlich, dass der Sinn vom Glauben an die Gnade nicht ist,
Menschen klein zu machen, sondern im Gegenteil: Der Sinn des Vertrauens auf die Gnade ist es,
in dieser vitalen Lebenshaltung zu leben.
Natürlich ist es nicht falsch, sich anzustrengen, es gut machen zu wollen, seine Leistung auf der
Position abzuliefern, auf der man eingesetzt wird.
Aber das Vertrauen auf die Gnade weiß, dass wir zum Glück mehr sind als das, was wir können,
leisten oder erreichen.
Das Vertrauen auf die Gnade hilft uns, die eigene Leistung zu relativieren, weil wir wissen, dass
das, was wir leisten, gegenüber allem, was uns geschenkt wird, eigentlich nicht ins Gewicht fällt.
Das Vertrauen auf die Gnade richtet uns nach Niederlagen wieder auf und hilft uns, nach Siegen
auf dem Teppich zu bleiben. Im Vertrauen auf die Gnade können wir entspannt mit unserem
Scheitern, unseren Fehlpässen und Misserfolgen leben, und müssen uns daran nicht festbeißen
und verkrampfen.
Das Vertrauen auf die Gnade hilft uns, Freude an dem Spiel zu haben, das unser Leben ist.
Amen.
Und der Friede Gottes der höher ist als alle Vernunft,
bewahre unsere Herzen und Sinne in Jesus Christus.
Amen.